Musik in Zeiten der Pandemie am Beispiel der Band AnnenMayKantereit
Verfasserin: Pia Gorna
Musik ist nicht nur ein elementarer Bestandteil der Kunst- und Kulturszene, sondern dient als Sprachrohr der Gesellschaft. Sie birgt ein enormes ökonomisches Potential, bewirkt massenhaft nicht zu unterschätzende individuelle Beeinflussungen und hat damit soziologische Bedeutung. Sie begleitete etliche subkulturelle Bewegungen, wie die Punk- oder die 68iger- Bewegung. Musik kann auf Missstände in der Gesellschaft aufmerksam machen, die Politik kritisieren oder einzelne Taten oder Personen anprangern. Folglich ist es nicht verwunderlich, dass die aktuelle Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen auch die Musikindustrie beeinflussen. Die Pandemie prägt unseren Alltag seit mehr als einem Jahr. Sie hat die Welt in eine tiefe Krise gestürzt. Firmenpleiten, Kurzarbeit und die Schließungen kultureller Einrichtungen sorgen für massive wirtschaftliche Veränderungen. Auch die psychischen und sozialen Folgen sind enorm. Gleichzeitig macht die Pandemie Ungleichheiten und Missstände in der Gesellschaft sichtbar: ungleiche Bildungschancen oder prekäre Arbeitsverhältnisse, wie sie in der Pflege oder der Fleischindustrie zu finden sind. Diese Sichtbarkeit bietet der Musikszene eine breite Angriffsfläche für eine musikalische Auseinandersetzung.
So greift auch die Band AnnenMayKantereit die Pandemie in ihren Songs auf und verarbeitet die Corona-Krise in und mit Musik.
Der Name der Kölner Indie-Rockband ist ein Kompositum aus den drei Nachnamen der Gründungsmitglieder Christopher Annen, Hennig May und Severin Kantereit. Kennengelernt in der Schule, begann die Band 2011 ihre Kariere mit Straßenmusik (vgl. Borgmann 2015). Durch die Verbreitung ihrer Lieder auf der Plattform YouTube gewann die Band an Aufmerksamkeit und Hörer:innen. Nachdem sie im Jahr 2014 auf vielen Festivals spielten, steigerte sich ihr Bekanntheitsgrad vor allem nach der Tour-Begleitung als Vorband der Berliner Rockband Beatsteaks. Nach einigen Fernsehauftritten folgte im Jahr 2015 eine erste kleine Clubtour (vgl. Singler 2019). 2015 bekam die Band ihren ersten Plattenvertrag und veröffentlichte die EP Wird schon irgendwie gehen. Nach zwei weiteren Alben – Nix Konkretes (2016) und Schlagschatten (2018) bei dem zu Universal gehörenden Berliner Label Vertigo Records – veröffentlichte die Band ihr drittes und aktuelles Album 12 bei dem Berliner Label Irrsinn Tonträger (vgl. Schenk 2021).
Obwohl sich die Band als ‚Indie-Rockband‘ bezeichnet, ist ihr Musikstil, geprägt von der markanten tiefen und rauen Stimme des Sängers Henning May, eine Mischung aus Pop, Rock und Blues. Klavierballaden und stampfende Rhythmen sind in allen Alben wiederkehrende Merkmal ihrer Musik.
Die Band ist zudem für ihre gesellschaftskritischen Texte bekannt. In dem Lied Jenny, Jenny vom Album Schlagschatten (2018) beschreibt die Band z.B. den Alltag einer Stewardess und macht auf die schlechten Arbeitsbedingungen in der Flugbranche aufmerksam. Hier heißt es: „Müde Augen werden wach geschminkt…sie wär‘ so gern fest angestellt.“ (AnnenMayKantereit 2018) Auch die Außenwahrnehmung dieser Berufsgruppe stellt die Band an den Pranger: „Und nach jeder Landung. Ist sie das Lächeln in der Brandung. Zwischen tausend Passagieren die nicht warten wollen. Auf die Passkontrollen und den Zoll.“ (AnnenMayKantereit 2018)
Im Song Marie auf demselben Album heißt es: „Manchmal denk‘ ich, die Welt is‘n Abgrund. Und wir fallen, aber nicht allen fällt das auf. Und so nimmt alles, alles seinen Lauf.“ (AnnenMayKantereit 2018) Die Eindrücklichkeit des Verbs fallen wird durch die wiederholte Verwendung verstärkt. Hier lassen etliche Beispiele Raum für Interpretation: Weil von Welt die Rede ist, ist hier z.B. eine Anspielung auf den Klimawandel naheliegend. Die Musiker greifen in ihren Texten immer wieder gesellschaftliche und soziale Probleme auf und engagierten sich auch abseits der Bühne politisch. So unterstützen sie bspw. die Organisation SOS Mediterranee, die Geflüchtete vor dem Ertrinken rettet (vgl. Barisic 2020) oder die Friday for Future Demonstrationen. In Hamburg spielten sie 2019 auf einer Demonstration Hurra, die Welt geht unter. Das Lied, welches Hennig May 2015 in Zusammenarbeit mit den Berliner Musikern K.I.Z. veröffentlichte, handelt von einer utopischen Zukunft und stellt den modernen Kapitalismus an den Pranger. Textzeilen wie: „Verbrannte McDonald‘s zeugen von unser‘n Heldentaten. Seitdem wir Nestlé von den Feldern jagten, schmecken Äpfel so wie Äpfel und Tomaten nach Tomaten“, oder „…unsre Haustür‘n müssen keine Schlösser mehr haben, Geld wurde zu Konfetti und wir haben besser geschlafen. Ein Goldbarren ist für uns das Gleiche wie ein Ziegelstein…“ kritisieren gesellschaftsstrukturelle Veränderungen, die mit modernem Kapitalismus einhergehen (K.I.Z. 2015).
12
So überrascht es nicht, dass der Corona-Virus und seine Auswirkungen ebenfalls musikalisch aufgegriffen werden: Ihr drittes Album veröffentlichten die Musiker am 17.11.2020 jedoch ohne jegliche Vorankündigung oder Werbung. Dieses ‚Vorgehen‘ passt zu den zeitaktuellen Geschehnissen, sodass die Gesellschaft lernen musste, regelmäßig ‚über Nacht‘ und ohne Vorankündigung mit neuen politischen Entscheidungen umzugehen: Es ist also nicht ‚kurz vor zwölf‘, wie die symbolische Katastrophenuhr anzeigt, sondern – wie der Titel deutlich macht– bereits 12.
So verarbeitet die Band auf dem Album auch den ersten Lockdown während der Corona-Pandemie 2020. Die Umstände der Pandemie haben die Produktion und damit den Klang des Albums maßgeblich geprägt. Die Lieder sind, entgegen den gängigen Standards, nicht in gemeinsamer Arbeit in einem Studio aufgenommen und produziert worden, sondern bei den Musikern zu Hause im Heimstudio oder Wohnzimmer entstanden. Der komplette kreative Schaffensprozess des Albums hat im ersten Lockdown und somit ohne persönliche Kontakte zwischen den Musikern stattgefunden. Texte, Ideen und Veränderungsvorschläge wurden per E-Mail oder Textnachricht auf dem Handy ausgetauscht. Die Sprachnachrichtenfunktion auf den Smartphones wurde als Aufnahmegerät verwendet (vgl. Barisic 2020). Diese Aufnahmen, teils im Original auf dem Album hörbar, prägen den Gesamteindruck des Albums und lassen es an vielen Stellen improvisiert und unfertig erscheinen. Wie Skizzen oder Fragmente endet fast die Hälfte aller Lieder plötzlich und unerwartet. Hintergrundgeräusche bei Aufnahmen, z.B. Türknarren, Flüstern oder Vogelgezwitscher geben den Hörer:innen einen akustischen Einblick in die künstlerische Arbeit der Musiker während des Lockdowns und in ihre privaten Räume. Die Hörer:innen an der Produktion des Albums bewusst teilhaben zu lassen macht deutlich, dass pandemiebedingt neu beschrittene Wege in der Musikproduktion zu finden sind. Auch wenn es an einigen Stellen deswegen produktionstechnisch unausgereift klingt, erzeugen die genannten Effekte gesteigerte Direktheit und Authentizität.
Im Vorwort wenden sich die Musiker direkt an ihre Hörer:innen und bitten darum, das Album am Stück zu hören:
Es ist fertig. Unser drittes Album. Es heißt Zwölf. Es ist ein Album aus dem Lockdown. Ein Album, das unter Schock entstanden ist. Für uns hat es immer drei Teile gehabt – den düsteren Beginn, das Aufatmen danach und die süß-bittere Wahrheit zum Schluss. Wir wünschen uns, dass dieses Album am Stück gehört wird. Die Reihenfolge der Lieder hat für uns Bedeutung, und wer so großzügig ist sich das Album auch in dieser Reihenfolge anzuhören hat einen gepolsterten Sitzplatz in der Mehrzweckhalle unserer Herzen. Hoffentlich bis bald. Hoffentlich. Severin, Christopher, Henning. AnnenMayKantereit. (AnnenMayKantereit 2020)
Die Bitte das Album am Stück zu hören sowie die Einteilung in drei Teile, ähnlich wie Kapitel, korrespondiert mit dem Lesen eines Buches. Wo die einzelnen ‚Kapitel‘ der Musikstücke jedoch enden, bzw. anfangen lassen die Musiker an dieser Stelle offen. Erst durch die drei Musikvideos auf der Homepage der Band lassen sich Trennlinien ziehen und somit klare Einteilungen in drei Teile vornehmen. Bei den Videos handelt es sich um drei kleine, digitale Konzerte, die ebenfalls auf YouTube zu sehen (vgl. AnnenMayKantereit 2020) und das Album thematisch vorstellen: der düstere Beginn (Link zu den Videos: Teil 1) – das ‚Aufatmen‘ danach (Teil 2) – die süß-bittere Wahrheit zum Schluss (Teil 3).
Der düstere Beginn (Songs 1 bis 4) …
verarbeitet den ersten Lockdown 2020 und stimmt die Hörer:innen auf eine melancholische und kritische Auseinandersetzung ein. „Alles was wir haben, kommt irgendwo aus der Vergangenheit“ sind die ersten Zeilen des Albums (AnnenMayKantereit 2020). Tiefe Klaviertöne, metaphorische Wendungen und Personifikationen unterstreichen nicht nur die Schwere des ersten Teils, sondern verdeutlichen auch die Tragweite der Pandemie in Gegenwartsbewältigung: „ich glaub Corona ist berühmter als der Mauerfall und Jesus zusammen“ (AnnenMayKantereit 2020). Verzweiflung und Hadern mit den Maßnahmen des Lockdowns werden deutlich, wenn bei Henning May die Tage länger werden „mit jedem Tag, der vergeht“ und er keine Hoffnung mehr „zu verkaufen hat, nur Gegenwartsbewältigung“ (AnnenMayKantereit 2020)
In Gegenwart (vollständiger Songtext) werden aus der Ich-Perspektive Gefühle an einem scheinbar beliebigen Tag in der Pandemie beschrieben, aus denen bedrückend deutlich wird, dass gestern „alles halb so wild gewesen“ ist, und „morgen alles anders sein könnte“ (AnnenMayKantereit 2020). Die Tristesse des Lockdowns wird für die Hörer:innen spürbar, indem das Ich den Alltag ohne Möglichkeiten auf Ablenkung oder Unterhaltung bestreiten muss. Alle kulturellen Einrichtungen haben geschlossen, alle Nachrichten drehen sich um die immer wiederkehrenden Informationen zum Infektionsgeschehen der Corona-Pandemie: „Ich muss mich zwingen ein paar Stunden, keine Nachrichten zu lesen…“ (AnnenMayKantereit 2020). Aber nicht nur auf inhaltlicher Ebene, sondern auch auf musikalischer, ist diese Tristesse des Alltages spürbar. Dunkle Gitarren- und Klaviertöne sind zu hören, während der Sänger mit seiner markanten Stimme langsam die Gegenwart fasst. Im Refrain nimmt die Stimme des Sängers eine höhere Tonlage an, sie erinnert an verzweifeltes Schreien.
An verschiedenen Stellen im Lied wird Kritik an der Gesellschaft und Politik deutlich. Die Musiker prangern die laufende und alles einnehmende Berichterstattung der Medien über das Corona-Virus an. Weitere substanzielle Themen erhalten kaum bis keine mediale Präsenz. Als Beispiel wählt die Band das Feuer im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos Anfang September 2020: „Die Nachrichten rennen dem Algorithmus hinterher, wenn in Moria die Zelte brennen, dann sieht das niemand mehr.“ (AnnenMayKantereit 2020). Bei dem Brand in dem völlig überlasteten Erstaufnahme-Lager für Geflüchtete sind über 12.000 Menschen obdachlos geworden und zwei Menschen gestorben (vgl. Krach 2020). Der Vorfall machte auf die katastrophalen Bedingungen in Aufnahmelagern wie Lespos aufmerksam. Während nach Ausbruch des Feuers die Medien zu Beginn darüber berichteten und auch die sozialen Medien das Thema für einige Zeit vermehrt aufgriffen, drängte die Berichterstattung über die steigenden Corona-Zahlen ab Mitte Oktober diesen Vorfall medial in den Hintergrund.
Ein weiteres Beispiel ist die direkte Kritik an der deutschen Finanzpolitik, die sich ebenfalls in Gegenwart findet. In den letzten Zeilen, die durchaus als Anklage zu verstehen ist, heißt es: „Die Gelder fließen, die Tränen auch. Woher sie plötzlich kommen, weiß niemand so genau.“ (AnnenMayKantereit 2020). Hier macht die Band auf die ‚plötzliche‘ finanzielle Unterstützung durch den Staat, in Form von Corona- Hilfen durch den Bund, aufmerksam (vgl. Bundesfinanzministerium 2020). Mit dem Adverb plötzlich weisen die Musiker auf eventuelle Ungerechtigkeiten in der Verteilung finanzieller staatlicher Mittel hin und spiegeln somit das Unverständnis vieler Bürger:innen wider. Um welche finanziellen Mittel es genau geht, konkretisieren die Musiker nicht. Hier herrscht Offenheit, es ist den Hörer:innen selbst überlassen, ein für sich passendes Beispiel zu finden. Auf diesem Weg schaffen die Musiker ein Spannungsfeld zwischen Kontext und Interpretationsfreiheit.
Der insgesamt anklagende Ton des Liedes wird durch die sich wiederholende und im Text wiederkehrende rhetorischen Frage: „Oder bild‘ ich mir das ein?“ (AnnenMayKantereit 2020) unterstützt. Die Frage kann als Kontaktaufnahme des Sängers zu den Hörer:innen gedeutet werden oder als Versuch, die Hörer:innen zu einem Perspektivwechsel und zum Nachdenken über die genannten Probleme anzuregen.
Durch den Wechsel zwischen dem Benennen aktueller gesellschaftlicher und sozialer Folgen der Pandemie, wie der Schließung kultureller Einrichtungen und dem Erinnern an vergangene Ereignisse, wie dem Brand im Aufnahmelager von Moria, schaffen die Musiker in diesem Lied ein Ausgleich zwischen dem Thematisieren gesellschaftliche Probleme in der Gegenwart und der Vergangenheit. So zeichnen sie hier eher ein düsteres Bild und schauen pessimistisch in die Zukunft, dass nach der Pandemie eher nicht „alles ander‘s sein“ wird, weil sich gesellschaftliche und soziale Probleme nicht einfach lösen, sondern pandemiebedingt verstärken können (AnnenMayKantereit 2020).
Aufatmen danach (Song 5 bis 12) …
Der Schwerpunkt des zweiten Teils liegt auf der Auseinandersetzung mit dem ersten ‚Post-Lockdown‘. Die Musiker beschäftigen sich im Song Zukunft mit persönlich gewonnenen Erkenntnissen aus dem ersten Lockdown: „Ich glaub, ich hab sogar schon was gelernt. Über Liebe, Zweifel, Einsamkeit“ (AnnenMayKantereit 2020). Mit Zeilen, wie „der Traum ist immer nur gelieh‘n…“ (AnnenMayKantereit 2020) zeigen sie in Vergangenheit Dankbarkeit und Demut über vergangene Zeiten. Die Freude über gelockerte Maßnahmen wird in Aufgeregt (vollständiger Songtext)besonders eindrücklich verarbeitet: Dieses Lied beschreibt die ersten Versuche zur Rückkehr in die ‚alte Normalität‘ von Martin, Karla und Andi nach Ende der Kontaktbeschränkungen des Lockdowns. Der Fokus liegt hier auf der Wiederaufnahme sozialer Kontakte. Dabei werden in jeder der drei Strophen kleine Geschichten erzählt: Martin trifft einen Freund, Karla ihre Mutter und Andi eine bisher lediglich aus der virtuellen Welt bekannten Kontakt. Wie der Titel bereits verrät, geht es in dem Lied vor allem um die aufgeregten Erwartungen an die bevorstehenden Treffen. Für die Hörer:innen wird aufkommende Freude durch den musikalischen Aufbau des Liedes unterstützt. Das Lied beginnt in einem schnellen Takt mit rhythmischen Gitarren- und Trompetenklängen. Es bietet musikalisch einen Kontrast zu den langsamen und schwer anmutenden Klavierklängen der ersten Lieder. So reiht sich dieses Lied beispielhaft in den mittleren Teil Das Aufatmen danach Aufbaus des Albums ein.
Gesellschaftskritik äußern die Musiker auch hier auf unterschiedliche Arten. Zum einen wird durch die durchweg positive inhaltliche wie auch musikalische Grundstimmung ein komplettes Gegenteil zu der Stimmung in der Gesellschaft während der vorher geltenden Maßnahmen kreiert. Alles scheint nun plötzlich übertrieben leicht. Durch diesen Kontrast lässt sich eine subtile Kritik an den Kontaktbestimmungen und der damit einhergehenden sozialen Isolation der Menschen erkennen. Martin hat seinen Freund seit „siebzig Tage nich‘ geseh‘n“, Karla hat ihre Mutter „…seit Ewigkeiten nich‘ gesehen“ und Martin hat seine Bekanntschaft aus dem Internet „noch nie in echt geseh‘n“ (AnnenMayKantereit 2020) Der gleiche Aufbau der Strophen mit unterschiedlichen Protagonist:innen lässt sich wie eine Aufzählung durch die Hörer:innen gedanklich unendlich fortführen.
Da zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Albums die Menschen in Deutschland bereits den ersten Lockdown hinter sich hatten, fällt es den Hörer:innen leicht, sich mit dem Inhalt und den beschriebenen Gefühlen der Protagonist:innen zu identifizieren. Die banal wirkenden und alltäglichen Beispiele der Handlungen, wie ein „Radler trinken“ oder eine Runde „mit den Hunden um den See“ (AnnenMayKantereit 2020) drehen verstärken die Identifikationsmöglichkeit.
An anderen Stellen des Liedes wird direkt auf gesellschaftsstrukturelle Entwicklungen aufmerksam gemacht. Komplexe Themenbereiche wie Einsamkeit im Alter und Arbeitslosigkeit werden thematisiert: Karla trifft ihre Mutter, die sie „eh zu wenig sieht“ und Andi freut sich auf seine Bekanntschaft, die arbeitslos ist „genau wie er“ (AnnenMayKantereit 2020). Durch die eingeschobenen Nebensätze erhalten die gesellschaftlichen Probleme wie pandemiebedingte Arbeitslosigkeit bei Künstler:innen (Andis Bekannte ist Regisseurin) trotz eher fröhlicher Grundstimmung von Aufgeregt ihren Platz. Durch den Kontrast von Form und Inhalt wird die Pandemie inhaltlich genutzt, um auf bereits vorhandene Probleme, die sich durch die aktuelle pandemische Lage verstärkt haben, aufmerksam zu machen.
Die süß-bittere Wahrheit (Song 13 bis 16) …
wagt letztlich einen Blick in die Zukunft. Die gewonnene Erkenntnis, dass sich jetzt Veränderungen durch alle Bereiche des Lebens ziehen, ist die zentrale Aussage. Nichts ist mehr wie früher: „Magst du die Gedanken daran, wie es war, an diesem einen Abend, vor so vielen Jahren?“ (AnnenMayKantereit 2020). Es ist den Hörer:inne selbst überlassen, diese süß-bittere Wahrheit als dystopischen Schluss oder ermutigenden Zukunftsausblick zu interpretieren.
In der letzten Ballade (vollständiger Songtext) – Lied 15 bevor das Outro einsetzt – entscheiden sich die Musiker für die bittere statt süße Wahrheit: Im Zentrum steht ein Zwiegespräch und die wiederkehrende Frage, „Worüber würde ich singen, wenn es niemanden mehr interessiert?“ (AnnenMayKantereit 2020). Darauf folgt ein Frage-Antwort-Spiel mit der Aufzählung gesellschaftlicher und sozialer Probleme folgt.
Die Ballade zeichnet ein Bild von einer desinteressierten und rücksichtslosen Gesellschaft, welcher rassistische Morde egal sind, die zulässt, dass einige Wenige sich bereichern und der der Klimawandel kein Grund zu einer Verhaltensänderung zu geben scheint. Wiederkehrende Fragen sowie die Anaphern verstärken die Anklage an die Gesellschaft.
Die Frage: „Worüber würde ich singen, wenn es niemanden interessiert?“ macht deutlich, wie sehr Musiker:innen – und weiter gedacht Künstler:innen allgemein – von den Regeln der Musikindustrie und des Kunstmarktes abhängig sind. Wollen sie ihren Lebensunterhalt durch ihre Kunst bestreiten, sind sie in der Regel auf Plattenproduktionen, Auftritte und Publikum angewiesen. Die Notwendigkeit der Rentabilität kann einen Anpassungsdruck und eine kommerzielle Orientierung bewirken. Desillusioniert wenden sich die Musiker erneut direkt an ihre Hörer:innen und machen die innere Zerrissenheit zwischen äußerer Erwartungshaltung und innerem Anspruch sichtbar. Musikalisch wird die Ballade von einem Klaviersolo begleitet, welches durch die tiefen und langsamen Akkorde eine traurige, fast hoffnungslose Stimmung vermittelt: „Vielleicht schreib‘ ich irgendwann über den Weltuntergang / Der Titel ‚Die letzte Ballade‘ hat, find‘ ich, ‘nen sehr guten Klang.“ (AnnenMayKantereit 2020)
Fazit
Die Welt, die auf 12 besungen wird, steht seit COVID-19 vor solch einem Untergang, sie wird seit über einem Jahr von einer Pandemie heimgesucht und Wissenschaftler:innen unterschiedlichster Disziplinen forschen an ihrer Bekämpfung und Bewältigung. In dieser Pandemiebekämpfung kommt es immer wieder zu Entscheidungen, deren Auswirkungen nicht oder nur teilweise messbar oder absehbar sind. Maßnahmen wie ein Lockdown, Schul- und Kitaschließungen oder Maskenpflicht stehen geplanten Lockerungen entgegen. Die Entscheidungen der Politiker:innen stoßen in der Gesellschaft nicht nur auf uneingeschränkte Zustimmung. Kritik in der Gesellschaft, bis hin zu Protest, ist laut.
Auch die Kunst- und Musikszene setzt sich mit der Pandemie auseinander. Denn Musik als Medium hat nicht nur eine große Reichweite, sie kann zudem als kritische Artikulation respektive Proteste verstanden werden, als Ausdruck der Auflehnung gegen Normsysteme der bestehenden Gesellschaft (vgl. Bartnik/Bordon 1981: 79).
Die Band AnnenMayKantereit schafft mit ihren Album 12 das erste deutsche Musikalbum, welches nicht nur komplett im ersten Lockdown entstanden und somit in seiner technischen Produktion maßgeblich davon geprägten ist, sondern macht die Pandemie und den Umgang mit dieser zum Thema der gesamten Platte. Dabei verarbeiten die Musiker eigene Gefühle und persönliche Erlebnisse, nutzen das Medium der Musik aber auch, um mit ihren Hörer:innen in Kontakt zu treten. Diese direkten Kontaktaufnahmen sind als Versuch zu verstehen, trotz der pandemisch bedingten Konzert-und Festivalabsagen, die Verbindung zu ihren Hörer:innen zu halten. Mit ihren drei online bereitgestellten ‚Wohnzimmerkonzerten‘ bieten sie ich ihren Hörer:innen eine eingeschränkte, dennoch intime Möglichkeit, den Konzertbesuch zu ersetzen.
Als Vermittler politischer Orientierung nutzen sie ihre Bekanntheit, um auf diesem Album an vielen Stellen auf bestehende gesellschaftliche und soziale Ungleichheiten und Probleme aufmerksam zu machen. Dabei werden die Hörer:innen angeregt über die Pandemie selbst und ihre Auswirkungen sowie die Folgen sozialer Isolation nachzudenken. In einer Situation, in der das Handeln jeder einzelnen Person die Auswirkung der Pandemie beeinflusst, bietet sich für die Musiker auch die Möglichkeit, die Gesellschaft auf Solidarität, Mitgefühl und Zusammenhalt zu hinterfragen. Gerade weil die Medien seit einem Jahr von Berichten über die Corona-Pandemie bestimmt werden, nutzt Annenmaykantereit ihre Musik, um auf die Veränderung gesellschaftlichen Bewusstseins aufmerksam zu machen.
Musikalben:
AnnenMayKantereit (2020, November 17): 12. Irrsinn Tonträger.
AnnenMayKantereit (2018, Dezember 7): Schlagschatten. Vertigo Berlin.
K.I.Z. (2015, Juli 10): Hurra die Welt geht unter. Vertio Records / Universal.
Songtexte:
Ganter, M. (2020, November 17). Songtext: Gegenwart. Abgerufen am 22.03.2021, von https://genius.com/Annenmaykantereit-gegenwart-lyrics
Ganter, M. (2020, November 17). Songtext: Aufgeregt. Abgerufen am 22.03.2021, von https://genius.com/Annenmaykantereit-aufgeregt-lyrics
Ganter, M. (2020, November 17). Songtext: Die letzte Ballade. Abgerufen am 22.03.2021, von https://genius.com/Annenmaykantereit-die-letzte-ballade-lyrics
Literatur:
Schmidt, Heinrich (1974): Philosophisches Wörterbuch. 19. Aufl., neu bearbeitet von Georgi Schischkoff. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag.
Annen, C., May, H., Kantereit, S. (2020). AnnenMayKantereit. Abgerufen am 15.03.2021, von https://www.annenmaykantereit.com/
Barisic, M. (2020, Dezember 1). Ich ertrage diese Scheinheiligkeit nicht mehr. Abgerufen am 20.03.2020, von https://www.jetzt.de/musik/henning-may-von-annenmaykantereit-ueber-neues-album-12
Bartnik, Norbert und Bordon, Frieda (1981): Keep on rockin`: Rockmusik zwischen Protest und Profit. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.
Borgmann, M. (2015, Januar 1). Eine Band wie Zuhause. Abgerufen am 19.03.2021, von https://www.br.de/puls/tv/startrampe/bands/annenmaykantereit-steckbrief-startrampe-staffel-18-100.html
Bundesfinanzmisisterium (2020). Corona-Hilfen. Abgerufen am 15.03.2021, von https://bundesfinanzministerium.de/Web/DE/Themen/Schlaglichter/Corona/corona.html
Hartwich-Wiechell, Dörte (1974): Pop-Musik: Analysen und Interpretationen. Köln: Arno Volk Verlag.
Krach, W. (2020, September 9). Flüchtlingslager Moria fast vollständig abgebrannt. Abgerufen am 24.06.2021, von https://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlingslager-moria-brand-1.5025579
Schenk, C. (2021). AnnenMayKantereit. Abgerufen am 14.03.2021, von https://irrsinnig.com/tontraeger
Schmidt, Heinrich (1974): Philosophisches Wörterbuch. 19. Aufl., neu bearbeitet von Georgi Schischkoff. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag.
Singler, J. (2019, Juni 24). Wie AnnenMayKantereit von der Straße auf die große Bühne kam. Abgerufen am 19.03.2021, von https://www.suedkurier.de/region/linzgau/neuhausen-ob-eck/Wie-AnnenMayKantereit-von-der-Strasse-auf-die-grosse-Buehne-kamen;art372568,10190824
Abbildungen:
Abb. 1: AnnenMayKantereit (2020, November 17): 12. Irrsinn Tonträger. Titelliste.
Abb. 2: AnnenMayKantereit (2020, November 17): 12. Irrsinn Tonträger. Albumcover. Unter: https://www.annenmaykantereit.com/ [Letzter Zugriff: 01.07.21]
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