Ein Ich im Innen und Außen
Verfasserin: Christine Lippoldt
Das Kunstwerk shrink des Künstlers Lawrence Malstaf aus dem Jahr 1995 (siehe Abb. 1 und 2, sowie Video bei Vimeo) bildet die Grundlage für eine Betrachtung und Auseinandersetzung mit der derzeitigen pandemischen Situation in Folge des Covid-19 Virus. Die Installation besteht aus einem Gerüst, an dem eine große transparente Plastikhülle angebracht ist. Ein Mensch kann sich darin hineinbegeben und diese verschließen. Mittels eines Schlauches wird die Luft herausgesogen und ein anderer sich darin befindender Schlauch versorgt den Menschen mit Sauerstoff. Das Entziehen der Luft, das Vakuumieren, hebt den Körper des Menschen besonders hervor, da sich das Plastik an den Körper eng anlegt. Die sich darin befindende Person kann sich bewegen und ihre Position verändern.
Das Video, dem auch die verwendeten Fotos entstammen, veranschaulicht die Installation noch eingehender.
Die für mich sehr eindrückliche Installation, die mit ihrer Premiere im Jahr 1995 schon 26 Jahre alt ist, lässt im gegenwärtigen Kontext von Corona im Jahr 2020/21 eine neue Rezeption zu. Durch das spezifische Arrangement der Materialität des Kunstwerks vermittelt sich in einer eigenen Art und Weise die pandemische Semantik in Form von Begriffen wie beispielsweise Isolation, Hygiene oder Lockdown. In einer fast schon plakativen Art und Weise zeigen sich darin die derzeitigen Diskurse um Corona, wodurch sich aber auch etwas sehr Komplexes zu verdichten scheint, dem ich mich im Folgenden durch Ausformulieren verschiedener Gedanken versuche zu nähern.
Anhand des Kunstwerks lassen sich beispielsweise Bilder von in Frischhaltefolie verpacktem Fleisch der Fleischindustrie assoziieren, die während der ersten Welle der Pandemie besonders im Fokus stand, da sie durch ihre prekären Arbeitsbedingungen Corona-Hotspots verantwortete (vgl. Iser 2020). Dabei eröffnet sich mir der Begriff des ‚Humankapitals‘. Des Weiteren ruft das Bild des vakuumvisierten Menschen ein beklemmendes Gefühl hervor. Das lässt mich an Diskurse über vermeintliche Freiheit denken, die sich im Zuge der AHA-Maßnahmen zur Reduzierung der Inzidenzen entfalt(et)en.
Das Kunstwerk trägt das Subjekt Mensch in seinem Zentrum. Gleichermaßen steht der Mensch im Zentrum des Coronavirus. Die Installation sowie das Virus exponieren und inszenieren den Menschen, ersteres entlang des materiellen Gerüsts und letzteres entlang der äußeren Umstände und gesellschaftlichen Faktoren. Dieses wird von den Medien gerne mit der Metapher des Brennglases beschrieben, durch die unsere globalen inhärenten gesellschaftspolitischen Strukturen und Hierarchien sichtbarer und deutlich werden. Im Folgenden möchte ich das Kunstwerk dahingehend nutzen, um die in einem gedanklichen Wechselspiel hervorgebrachten Assoziationen im Kontext von Corona schrittweise zu vertiefen.
Das Kunstwerk shrink ist auf den ersten Blick zweigeteilt. Das Material, dass das Außen des Kunstwerks darstellt, ist aus Plastik gefertigt. Dadurch wird direkt auf unsere heutige Zeitepoche verwiesen, die von der billigen materiellen Möglichkeit des massenhaften Produzierens und Konsumierens von Gütern wie keine andere Zeit geprägt ist. Die New York Times spricht vom Zeitalter des Plastozäns (vgl. Schlossberg 2017). Mikroplastik auf entlegensten Gletschern, mit Plastik gefüllte tierische Mägen und maritime Teppiche aus Plastik sind heutzutage ein allgegenwärtig bedrohliches Problem. Das in der Installation verwendete Material des Plastiks stellt für mich somit etwas Allgemeines dar, das uns in irgendeiner Form überall umgibt. In der Installation umschließt es in seinem Inneren einen Menschen, einen mit Namen bezeichneten Besuchenden der Ausstellung: ein Ich, dem das Bewegen und eine Positionsveränderung innerhalb des sie oder ihn umschließenden Plastiks möglich ist. Diese personifizierte Konstellation symbolisiert wiederum etwas sehr Spezifisches. Gleich einem individuellen Fingerabdruck legen sich die Falten des Plastiks mit jedem sich darin befindenden Menschen immer wieder neu an die jeweiligen Körper. Fragen, die sich mir stellen, sind: Wie bewegt sich dieses Ich? Wie zeigt es sich? Wie wird es von den anderen Besuchenden der Ausstellung beobachtet, wie fühlt es sich der Beobachtung ausgesetzt und wie verhält es sich dementsprechend?
Inwiefern bedingen sich Objekt (das Material) und Subjekt (der Mensch), die im Zusammenspiel ein originäres und spezifisches Bild generieren. Diese Gegenüberstellung vom Allgemeinen und Spezifischen kristallisiert sich dabei für mich besonders heraus. Die Pandemie lässt sich in ähnlicher Weise betrachten: Corona spricht jede:n auf ganz spezifische Art und Weise durch die realen Auswirkungen in Form von Ansteckung oder Einschränkungen durch Maßnahmen an. Das Virus bewirkt eine äußerst vielfältige Auseinandersetzung in sämtlichen unserer Lebensbereiche. Die Herausforderung für Politik, aber auch für jede:n Einzelne:n ist daher immens.
Im Sinne einer Konstituierung des Ichs nehme ich das Kunstwerk und seine Form zum Anlass, um freie, aber mit dem Kunstwerk verbundene Assoziationen zu knüpfen. Diese Form empfinde ich dabei als produktiv, da es einen Blick erlaubt und erzwingt, der gerade vom Allgemeinen ins Spezifische springt. Und wenn Corona eins macht, dann ist es das Allgemeine mit dem Spezifischen zu verdeutlichen.
Ein Ich im Außen und im Innen
Auf einer metaphorischen Ebene betrachtet formt die Plastikhülle der Installation den Menschen in einer Weise, wie auch Gesellschaft und Kultur diesen prägt. Die Frage ist, inwiefern wir, die einzelnen Ichs, zu Subjekten geworden sind, in dem Umfeld, in dem wir aufgewachsen sind und in dem wir uns bewegen.
Der berühmte Satz von Simone du Beauvoir „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ (de Beauvoir 1989: 403) umreißt diese Denkbewegung. Die Betonung liegt dabei auf den Personalpronomen „man“ und „es“. Gemeint ist nicht das „Ich“, sondern das Äußere, das mich Umgebende bzw. das Ich, das sich mit anderen befindet. Die Frage, die Simone du Beauvoir in ihrem Buch Das andere Geschlecht behandelt, kreist um eine (Selbst)-Gemachtheit und gleichzeitig um die Infragestellung eines allgemein weiblichen Geschlechts sowie um die Schwierigkeit, sich selbst vom angenommen Rollenbild wieder zu befreien. Sie fragt, inwiefern das Objekthafte auch zum Menschen dazu gehöre. Dabei ist es ihr wichtig zu betonen, dass nicht von einer Allgemeinheit der Frau oder des Mannes gesprochen werden kann. Eine von außen herangetragene, reine Vorherbestimmung des eigenen Seins könne es nicht geben und jede:r wäre handlungsfähig in einem bestimmten Rahmen innerhalb der Strukturen (vgl. de Beauvoir 1989: 27). Aus diesem Grund ist die Übersetzung des berühmten Zitates „On ne naît pas femme: on le devient.“ mit dem aktiven Verb „[…] man wird es“ gegenüber der mit der passiven Verbform fälschlichen Übersetzung „[…], man wird dazu gemacht“ äußerst wichtig (vgl. Stokowski 2019). Auf diese Art und Weise wird das doppelbödige Wesen des Begriffs des Subjektes benannt: ein Subjekt, das das Unterworfene, aber auch gleichzeitig das sich selbst Ermächtigende mit meint.
In diesem Wechselspiel zwischen gesellschaftlichem Bedingtsein und dem selbstbestimmten Ich entwickelt Annie Ernaux ihre „unpersönliche Autobiografie“ (Vormweg 2018), die die kollektiven Vorstellungen und Gegebenheiten ihres Aufwachsens und ihres Daseins mit ihrem sich darin bewegenden Selbst als etwas ineinander Verwobenes begreift. Sie beschreibt es so, als wäre es nicht unbedingt ihre Autobiographie, sondern als könne es ebenso die einer Person aus dem Nachbarhaus sein. Im Zentrum stehen die Ereignisse und die Sprache, die sie umgeben und die sie als Ausgangspunkt für die Betrachtung ihres Ichs nimmt. Sprüche, Redewendungen, Werbung, Zitate des französischen Präsidenten De Gaulle, usw. zählt sie auf den ersten Seiten nüchtern und stichpunktartig ohne bewertende Kommentare und Personalpronomina auf. Durch einen unvollständigen Satzbau und fehlende Interpunktion wirken diese wie Schlagzeilen:
… das tränenüberströmte Gesicht von Alida Valli, die in Noch ein Jahr und Tag mit Georges Wilson tanzt
(Ernaux 2017: 9)
Simone Signorets Gesicht auf dem Plakat von Thérèse Raquin
(Ernaux 2017: 10)
… das Plumpsklo im Hof hinter dem Haus in Lillebonne, die Ausscheidungen und das Papier fielen in den Bach und werden vom plätschernden Wasser davongetragen
(Ernaux 2017: 12)
… die Sätze von Männern im Bett, Mach mit mir, was du willst, ich bin heute Nacht dein Spielzeug
… existieren ist trinken ohne Durst
… wo waren Sie am 11. September 2001?
(Ernaux 2017: 14)
… eine Frau kann nur Ruhm erlangen, wenn sie ihr Glück zu Grabe trägt
… was haben Ehefrau und Dachpappe gemeinsam? Wenn man sie nicht ordentlich nagelt, liegen sie bald beim Nachbarn
… ein anständiges Mädchen geht um acht ins Bett, damit es um zehn zu Hause ist.
(Ernaux 2017: 15)
Diese Art des Schreibens bewirkt einerseits den Verlust des Individuellen und demonstriert in gewisser Form Passivität. Andererseits zeichnet sich in einer indirekten Weise durch die Auswahl dessen, was sie zur Schlagzeile erhebt, ihr Bild ihres Ichs nach. Dieses vermittelt sie durch die außenstehenden Dinge, die sie erzählt, die wiederum ein bestimmtes Licht auf sie werfen. Das Private verwandelt sich in etwas allgemein Verfügbares und wieder zurück. Stilistisch wechselt sie zwischen dem ersten Personalpronomen und dem dritten hin und her und verdeutlicht damit das Problem bzw. die Tatsache des passiven Geworden-Seins und des aktiven Werdens. Das ist ihr zentrales Moment des Schreibens:
„Doch jedes Mal, wenn sie anfangen will, steht sie vor demselben Problem: Wie kann sie das Vergehen der Zeit, die Veränderungen der Dinge, Ideen und Sitten und gleichzeitig das Innenleben dieser Frau schildern, wie kann sie ein Tableau über fünfundvierzig Jahre zeichnen und gleichzeitig nach einem Ich außerhalb der großen Geschichte suchen, einem Ich, das in herausgegriffenen Momenten existiert und über das sie mit zwanzig Jahren Gedichte mit Titeln wie Einsamkeit etc. geschrieben hat. Für entscheidend hält sie die Frage, ob sie in der ersten oder dritten Person schreiben soll. Das „ich“ ist zu beständig, eng, fast schon beklemmend, beim „sie“ ist die Außensicht, der Abstand zu groß.“ (Ernaux 2017: 188)
Peter Urban-Halle bezeichnet Annie Ernaux‘ Buch als eine Anti-Autobiographie, in der es kein Ich gäbe (vgl. Urban-Halle 2017). Doch für mich zeichnet sich das Bild eines Ichs ab, das sehr bewusst damit umgeht und seine Stellung, seinen Habitus reflektiert. Sie beschreibt ihr umliegendes Milieu mit den jeweiligen Gepflogenheiten. Sie wünscht sich einen Ausweg daraus. Dieser stellt für sie beispielsweise die Schule dar, die sie jedoch stets ihre Herkunft spüren lässt. Auf diese fühlt sie sich ihr ganzes Leben lang zurückgeworfen. Das zähe Bewegen ihres Selbst in ihrer Umgebung zeigt sie durch ihre Beschreibungen und Aufzählungen eindrücklich.
shrink ließ mich daran erinnern. Annie Ernaux beobachtet sich selbst durch das Außen. Durch das Schreiben arbeitet sie ihre prägenden Erinnerungen auf und begibt sich so gleichzeitig auf die Suche nach ihrem Ich, was eine einfühlsame und komplexe Widerständigkeit hervorbringt. Die an sie von außen herangetragenen Anrufungen weist sie im Sinne von de Beauvoirs „[…] man wird es“ vorsichtig und tastend zurück.
Ein Ich im Innen und im Außen
Malstaf‘s Intention seiner Installation war es, den sich darin befindenden Menschen eine Art Auszeit von der immer komplexer werdenden Welt zu geben. Die Plastikhüllen-Konstruktion soll die Flut an Informationen aufhalten, die täglich auf Menschen einwirkt. Die Installation ist als eine Art Kontemplations- oder auch Meditationsanlage gedacht. Die Idee ist als eine Reaktion auf die informationsbasierte technische Entwicklung mittels des Computers und des Internets zu verstehen, das immer mehr als eine personalisierte und individualisierte Datenmaschine zu begreifen ist. In einer Beschreibung wird Malstaf‘s Kunstwerk als eine Installation eines Nicht-Ortes gesehen (vgl. Wegerer 2009). Damit wird auf Marc Augé verwiesen, sodass ich folgendes Zitat des Ethnologen anbringen möchte:
„Die Übermoderne drängt sich in der Tat dem individuellen Bewußtsein der gänzlich neuen Erlebnisse und Erfahrungen von Einsamkeit auf, die in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen mit dem Auftreten und der Vermehrung von Nicht-Orten.“ (Augé 1994: 109)
Gerade in Hinblick auf die seit der Pandemie allgegenwärtigen Zoom-Kacheln finde ich diesen Gedanken interessant. Einerseits machen die Kacheln jede:n Einzelne:n sicht- und (selbst)beobachtbar und dringen in die privaten Räume von Politiker:innen, Freund:innen und Arbeitskolleg:innen. Andererseits stellen sie gleichzeitig durch das Virtuelle eine Abstraktion des Persönlichen dar. Dieser Raum der Moderne als eine Form einer Nicht-Verortung zeigt sich für mich in Hinblick auf die Konstituierung des Ichs buchstäblich in einem ganz neuen Rahmen.
Den Einblicken ins Persönliche, die ich durch Verzicht von medialen Repräsentationsräumen wie Facebook und Co. vor der Pandemie noch gut aus meinen Privaträumen fernhalten konnte, musste ich nun gezwungen durch die Umstände Einlass gewähren. Mein Computer ließ es aufgrund seiner Leistungsfähigkeit nicht zu, meinen Hintergrund zu ersetzen und mich in die Karibik zu projizieren. Ich selbst war zugegebenermaßen auch unfähig, mir eine Ecke im kleinen Zimmer frei zu räumen, frei von persönlichen Dingen. Noch dazu beobachte ich mich nun andauernd in meinem eigenen Computer auf dieser Kachel. So sehe ich also aus, wenn ich rede; wenn ich zuhöre; wenn ich mit den Gedanken woanders bin. Gleichzeitig beobachte ich aber auch die Anderen: wie wohnt wer; was ist das für ein Regal; wer ist geschminkt; wer inszeniert sich wie; wer hat aufgeräumt, wer nimmt welches Bild als Hintergrundprojektion und welchen Kontext produziert die- oder derjenige damit? Eine befreundete Kommilitonin berichtete mir, dass sie manchmal eine Personen-Kachel „pinne“, also die Person auf dem Bildschirm im Vollbildmodus fixiere, um diese einfach eine Zeit lang zu beobachten. Dieser Komplex von Beobachtung und Selbstbeobachtung und dessen mediale Repräsentation ist wie bei Annie Ernaux auch in vielen anderen Zusammenhängen zu finden.
Um im Rahmen der Online-Präsentation zu bleiben: Mir ist eine Videobotschaft in besonderer Erinnerung geblieben: die von Arnold Schwarzenegger, der aus seinem Privatraum an das Zuhause Bleiben appellierte und „Stay Home!“ verkündete (Schwarzenegger 2020). Dabei lag er mit Sonnenbrille, einem Basecap mit der Aufschrift ‚Sheriff‘ und Zigarre in der Hand breitarmig in seinem Pool.
Dieses semiotisch überladene Bild spiegelt für mich deutlich eine Subjektform wider, wie sie unsere kompetitive Gesellschaftsstruktur der Postmoderne hervorbringt und begünstigt.
Er ist die Verkörperung des amerikanischen ‚Nightmares‘, der Doktrin und des wiederholten Mythos unserer Zeit, in der jeder Mensch für das eigene Glück verantwortlich ist, egal ob Tochter eines Tellerwäschers oder Sohn eines Immobilienunternehmers. Die Werte der Freiheit, der Eigenverantwortung, der harten Arbeit und des wettkampforientierten Erfolges formten ganz plastisch seinen Körper zu einer Skulptur, die dem Diskobolus des Myron gleicht, – einer Verkörperung des männlichen Ideals von Kraft und Schönheit.
Der fünffache ‚Mister Universum‘ hat als wortkarger Action- Schauspieler das Narrativ des herkulischen Helden in unsere Fernseher der 80er und 90er Jahre gebracht, der Ur-Instinkte in Form von Laufen und Schießen wiederaufleben ließ. Die lebende Legende der ‚Goldenen Himbeere‘ zeichnet sich durch seine Statements wie ‚Failure is no Option‘, ‚Sei wie kein Anderer‘ aus und appelliert dadurch immer wieder an die eigene kreative Selbstverantwortung des eigenen Erfolges. So schuf er sich auch seine eigene Karriere als Politiker, als Gouverneur in Kalifornien, und sogar ante mortem ein eigenes Museum in Graz.
Es mag durchaus ein provokantes Beispiel in Bezug auf den Entwurf des eigenen Ichs und dessen Repräsentation sein, aber Arnold Schwarzenegger zeigt das Bild einer Selbstinszenierung, das den Entwurf des Individuums unter dem Aspekt einer marktorientierten Allgemeinheit zu etwas Besonderen erhebt – mit Leib und Seele. Ein Objekt, das sich zur Schau stellt, sich beobachten lässt und auch beobachtet werden will.
Fazit
Die inszenierte Kunst des vermeintlichen Selbst und seiner authentischen Performativität erhält in seiner globalen Einforderung eine hohe Valorisierung, die sich durch technische Entwicklungen, wie die Digitalisierung, dynamisiert und Milliarden von Vergleichbarkeiten schafft. Das stetige Werden und Begehren des Subjektes formuliert sich anhand des Wunsches, der jedoch innerhalb der Kontrollgesellschaft zu einem ständigen Anpassungs- und Flexibilitätszwang mutiert:
„Von ständiger Erreichbarkeit, permanenter Weiterbildung, bis hin zu den gerade momentan verlangten Home Offices, die ständige Verfügbarkeit und damit die Verwischung von Arbeitszeit, Freizeit und unbezahlter Care- Arbeitszeit all dies sind Entwicklungen und Mechanismen der Kontrollgesellschaften. Die Macht und damit auch der Profit, so kann zusammengefasst werden, werden nicht mehr notwendig aus der Disziplinierung des einzelnen Körpers gewonnen, sondern durch die Lenkung und Kontrolle von Bewegungen und Strömen. So wie das Geld fließt, muss auch der Warenverkehr und das Individuum in ständiger Bewegung sein, darf gar nicht mehr anhalten.“ (Hubatschke 2020).
Das Ich ist augenscheinlich systemrelevant geworden. Aber was ist und wo bleibt das Ich und wo finden wir das Wir darin? Malstaf’s Kunstinstallation verhalf mir dazu, Fragen zu stellen und diese in bestimmten Kontexte zu verorten.
Als im März des Jahres 2020 das Corona-Virus Deutschland erreichte und die Krankenhäuser mit schwer erkrankten Menschen füllte, war die Anspannung und die Überwältigung von den sich überschlagenden Geschehnissen groß. In sehr schnellen Schritten und innerhalb weniger Stunden und Tage wurde der gesamte menschengemachte Betrieb angehalten – für die Gesundheit des Menschen und der Gemeinschaft. Parteiübergreifend schien man sich eins, das an dieser Stelle die wirtschaftlichen Nachteile eines Lockdowns zweitrangig seien. Der Mensch gehe vor und dafür trete man ein. In diesen Tagen wirkte die Politik auf mich sympathisch, von allem parteipolitischen Machtgehabe, mit Ausnahme der AfD, entkleidet und entschlossen darüber, dass gemeinschaftliche Solidarität nun die stärkste Waffe im Kampf gegen das Virus sei.
In der zweiten oder auch dritten Welle des Infektionsgeschehens wächst der Druck immens, in das Leben zurückzukehren, das uns vor der Pandemie beschäftigte. Öffnungsszenarien knüpfen an eine konjunktursensible Wirtschaftlichkeit der Bevölkerung an, statt über nachhaltige ökonomische Strukturen nachzudenken, die resistenter und zum Wohle aller Menschen sowie für die Natur wären. Ich finde, eine Situation wie die derzeitige, sollte uns lehren, anders zu sehen, so wie es uns die Kunst ermöglicht.
Literatur
Augé, Marc (1994): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Fischer Verlag, Frankfurt/Main. Übersetzung Michael Bischoff.
Beauvoir, Simone de (1989): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Verlag Volk und Welt, DDR- Berlin. Band 1 übersetzt von Eva Rechel-Mertens.
Ernaux, Annie (2017): Die Jahre. Suhrkamp Verlag, Berlin. Übersetzung Sonja Finck.
Hubatschke, Christoph (2020): Die Pandemie in Zeiten der ‚Kontrollgesellschaften’. Universität Wien. Im Internet unter: https://www.diebresche.org/pandemie-in-zeiten-der-kontrollgesellschaften/ [Zuletzt aufgerufen am 22.02.21]
Iser, Jurik Caspar (2020, Juli 21): Die Geduld ist aufgebraucht. Unter: https://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2020-06/toennies-coronavirus-infizierte-qurantaene-guetersloh-lockdown [Zuletzt aufgerufen am 29.06.21]
Malstaff, Lawrence (2015, Februar 12): Shrink, Lawrence Malstaf 01995. Video unter: https://vimeo.com/119432150 [Zuletzt aufgerufen 29.06.21]
Schlossberg, Tatjana (2017): The Immense, Eternal Footprint Humanity Leaves on Earth: Plastics. The New York Times Company. Im Internet unter: https://www.nytimes.com/2017/07/19/clima- te/plastic-pollution-study-science-advances.html [Zuletzt aufgerufen am 22.02.21]
Stokowski, Margarete (2019) Das Ewigweibliche endlich fallen lassen. Was sagt uns „Das andere Geschlecht“ heute? – Essay. Bundeszentrale für politische Bildung: Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.- de, Bonn 2019. Im Internet unter: https://www.bpb.de/apuz/302113/was-sagt-uns-das-andere-ge- schlecht-heute. [Zuletzt aufgerufen am 21.02.21]
Urban-Halle, Peter (2017): Erinnerungen ohne Ich-Erzähler. Deutschlandfunk Kultur. Im Internet unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/annie-ernaux-die-jahre-erinnerungen-ohne-ich-erzaehler.950.de.html?dram:article_id=397818. [Zuletzt aufgerufen am 22.02.21]
Vormweg, Christoph (2018): Provozierende Aufforderung zur Selbstbesinnung. Deutschlandfunk. Im Internet unter: https://www.deutschlandfunk.- de/annie-ernaux-die-jahre-provozierende-aufforderung-zur.700.de.html?dram:article_id=408269. [Zuletzt aufgerufen am 21.02.21]
Wegerer, Jakob (2009): The Eyes Of The Skin. *MAKE A RESEARCH about an architectural experiment which works as A 3# skin, 2009. Arch+Media Studio Projekt: COMME des COSTUMES*, Ausstellung Kunsthaus Graz 2010 in Kooperation mit TU Graz. Im Internet unter: https://iam2.tugraz.at/studio/w09/blog/wp-content/uploads/2009/10/layout_Eyes-of-the-Skin.pdf [Zuletzt aufgerufen am 28.02.21]
Abbildungen:
Abb.1: Malstaff, Lawrence (2015, Februar 12): Shrink, Lawrence Malstaf 01995. Screenshot aus Video: https://vimeo.com/119432150 [Letzter Zugriff: 28.06.21]
Abb. 2: Malstaff, Lawrence (2015, Februar 12): Shrink, Lawrence Malstaf 01995. Screenshot aus Video: https://vimeo.com/119432150 [Letzter Zugriff: 28.06.21]
Abb. 3: Schwarzenegger, Arnold (2020, März 19): Stay at home. Even if you’re young. Even if you’re on spring break. Screenshot aus Video: https://www.youtube.com/watch?v=a4tI0mQ4ZdI [Zuletzt aufgerufen am 29.06.21]
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