Zur Bedeutung der abgetrennten Hand im Horror-Kurzfilm

Helping Hands (2020)

Verfasserin: Janine Ledendecker

Gibt man die Schlagwörter „Corona“ und „Horror“ in die Suchmaschine Google ein, erhält man mehr als 52,5 Mio. Einträge (Stand: 22.02.2021). Zu finden sind beispielsweise die Kombinationen Corona-Horror-Szenarien, Quarantäne-Horror, Virus-Horror oder ganz allgemein der Corona-Horror. Corona und Horror, so scheint es, sind untrennbar miteinander verbunden. Interessanterweise stößt man bei etymologischen Nachforschungen darauf, dass das lateinische Wort ‚horror‘ tatsächlich einen medizinischen Ursprung hat und von römischen Ärzten für „Fieberschauer, Schüttelfrost oder Fieberfrost“ verwendet wurde (vgl. DWDS o.D.). Diese Form der Verwendung wird allerdings gegen Ende des 18. Jhs. abgelöst durch die auch heute noch gängige Bedeutung „Abscheu, Entsetzen, Schauder, Grausen, Starren, Sichaufsträuben der Haare“ (vgl. ebd.). Beide Bedeutungen passen aber gut zur aktuellen Lage, weshalb die Vorliebe von Redakteur:innen hinsichtlich der Verwendung dieser Wortkombination(en) als auch der daraus resultierenden Vielzahl der Suchmaschinen-Einträge nicht wirklich verwundert. Der Horrorfilm, der gezielt Angst und Schrecken beim Publikum auslösen soll, erscheint daher als sowohl naheliegendes als auch vielversprechendes Genre, sich kreativ mit dem Coronavirus und seinen Auswirkungen auf allen Ebenen des täglichen Lebens auseinanderzusetzen.

Im Rahmen des Corona Short Film Festivals 2020, bei dem partizipierende Filmschaffende Kurzfilme aus der Selbstisolation/Quarantäne heraus drehen sollten, entstand der Horror-Kurzfilm Helping Hands (2020) des deutschen Regisseurs Christian Mümken, der die Auswirkungen der Corona-Pandemie in klassischer Horrorfilm-Manier präsentiert und zwar mit einem typischen antagonistischen Stellvertreter: der abgetrennten Hand mit Eigenleben. Zum Kurzfilm:  https://vimeo.com/419720670

Neben einer Filmanalyse, bei der die verwendeten Stilmittel des Genres herausgestellt werden, soll der Fokus des Beitrages aber besonders auf dem Decodierungsversuch der verwendeten abgetrennte Hand/Hände-Symbolik liegen, die in diesen pandemischen Zeiten noch einmal ganz andere Interpretationsansätze zulässt als im klassischen Horrorfilm.

Ein kurzer Einblick …

Doch bevor eine Analyse respektive Interpretation des Kurzfilms Helping Hands erfolgen kann, erscheint es sinnvoll, zunächst einen Blick auf den Kurzfilm an sich, auf das Genre des Horrorfilms und auf die Symbolik der abgetrennten Hand im klassischen Horrorfilm zu werfen, um Besonderheiten des Films Helping Hands, nicht nur gesellschaftlich, sondern auch im Kontext der Filmtheorie beleuchten zu können.

… in den Kurzfilm

Innerhalb wissenschaftlicher Literatur sucht man vergebens nach einer einheitlichen Definition für den Kurzfilm. Konsens besteht lediglich darin, dass die Zeit ein wichtiges Kriterium darstellt und die Länge eines Langspielfilms nicht erreicht werden darf (vgl. Wagenknecht 2020: 4). Je nach wissenschaftlicher Literatur, Wettbewerbs- oder Festivalvorgaben etc. variiert aber sowohl die Maximallänge eines Kurzfilms als auch die Minimallänge. Auch auf der Grundlage von Gattung, Genre und/oder Trägermedium kann keine befriedigende Definition für den Kurzfilm formuliert werden (vgl. Wagenknecht 2020: 5ff.).

Ein anderer Definitionsansatz rückt nicht die Länge bzw. Dauer des Films, also die äußere Kürze, in den Mittelpunkt, sondern sieht die innere Kürze eines Films als ausschlaggebendes Merkmal für einen Kurzfilm an. Unter innerer Kürze sind dabei „die Auswirkungen, die die formgebundene äußere Kürze der Darstellung bzw. die Umsetzung einer Narration in der Erzählzeit hat“ (Heinrich 1998: 54) zu verstehen. Daraus ergibt sich eine Reduktion des Erzählgegenstandes als besonderes stilistisches Mittel. Dabei solle Kürze nicht einfach quantitativ als geringerer Umfang angesehen werden, sondern qualitativ als sprachliche Verdichtung und konzentrierte Gestaltung (vgl. Müller in Heinrich 1998: 55). Dies kann durch verdichtende Formmittel erreicht werden, wie die fragmentarische Darstellung der erzählten Zeit, eine Abruptheit bei Anfang und/oder Ende des Films sowie eine erhöhte Verwendungsfrequenz von Symbolen, Metaphern oder Allegorien. Durch ebendiese Verdichtungsmittel und dem damit verbundenen Fehlen detaillierter Handlungsbeschreibungen wird bei den Rezipient:innen ein größerer Effekt hinterlassen als bei Langspielfilmen, da sie aktiver gefördert werden, eigene Gedanken und Interpretationen mit zu entwickeln.

… in den Horrorfilm

Ähnlich wie schon beim Kurzfilm gestaltet sich auch beim Genre des Horrorfilms eine exakte Definition als schwierig. Dies liegt nicht nur an den diversen Subgenres (z.B.: Splatter-, Slasher- oder Vampirfilme), die im Verlauf der letzten Jahrzehnte entstanden sind oder den teilweise verschwimmenden Grenzen zu anderen Genres wie dem (Psycho-)Thriller oder der Science Fiction, sondern besonders auch an der Tatsache, „dass letztlich jede Zeit ihren eigenen Schrecken hat, der sich in neuen Motiven oder Aktualisierungen niederschlägt“ (Vossen 2004: 28). Daneben sind die Gefühle, die bei der Rezeption ausgelöst werden, extrem individuell – was den Einen gruselt, lässt die Andere kalt (vgl. Vossen 2004: 26). Dennoch sollen an dieser Stelle einige signifikante Merkmale des Horrorfilms vorgestellt werden, um diesen immerhin ein Stück weit greifbarer zu machen.

Der Horrorfilm kennzeichnet sich dadurch, dass er nur einen kleinen Ausschnitt seiner Welt zeigt. Diese ist eng umrissen, Orte und Charaktere müssen sich entfalten können. Erst innerhalb eines überschaubaren Mikrokosmos kann etwas Unheimliches geschehen (vgl. Vossen 2004: 23f.). Damit ist dem Genre die totale Sicht auf die Dinge fremd, es spielt eher mit Perspektive. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Totaleinstellungen wenig eingesetzt werden und die Stilmittel der Wahl vorwiegend Halbnah- oder Naheinstellungen sind, die an den Blickwinkeln der Protagonist:innen ausgerichtet sind. Häufig werden furchterfüllte Gesichter oder zum Schrei aufgerissene Münder in Großaufnahmen präsentiert. Das eigentlich Bedrohliche wird meist nicht oder nur angedeutet gezeigt (vgl. Vossen 2004: 20; Filmlexikon o.D.: Abschnitt Stilmittel). Besonders die Musik- und Toneffekte sind beim Horrorfilm prägnant und ihnen wird eine größere Bedeutung beigemessen als bei anderen Filmen. Neben unheimlichen, spannungsgeladenen Soundtracks werden unterschiedliche Soundeffekte zur Suspense-Verstärkung eingesetzt (vgl. Filmlexikon o.D.).

Horrorfilme zählen zum phantastischen Kino und sind in erster Linie Filme, die beim Publikum Angst, Schrecken und Entsetzen auslösen sollen. Der filmische Horror ist ein „Massenphänomen, das auf allgemeinmenschlichen Urängsten beruht“ (Vossen 2004: 13). Dies können Kindheitsängste sein, aber auch ganz aktuelle Ängste wie die Bedrohung durch neue technologische und/oder gesellschaftliche Entwicklungen (vgl. Filmlexikon o.D.). Dies geschieht, indem der Horrorfilm die einem vertraute Welt auf den Kopf stellt und nach und nach das Chaos ausbricht. Horror ist demnach „die denkbar radikalste Negation einer heilen Welt“ (Vossen 2004: 16). Auf den Kopf gestellt wird diese heile Welt fast immer durch etwas Unheimliches, Fremdes, Bedrohliches – das können sowohl phantastische und übersinnliche Wesen sein (Geister, Vampire, Zombies etc.), tierische Ungeheuer (Haie, Affen etc.), aber durchaus auch menschliche Monstren (Psychopath:in, Serienmörder:in, Kannibal:in etc.) (vgl. Vossen 2004: 16). Interessanterweise stehen im Gegensatz zu anderen Genres vor allem die Antagonist:innen beim Horrorfilm im Mittelpunkt. Erinnert wird sich meist nur an das Monster/den Psychopathen, nicht aber an die eigentlich „Guten“. Das unheimliche Fremde wird in Helping Hands durch ein genretypisches Wesen dargestellt: die abgetrennte Hand.

… in die Symbolik von abgetrennten Händen im „klassischen“ Horrorfilm

Eine abgetrennte Hand mit Eigenleben ist für Horrorfilm-Fans nichts Neues, gibt es doch eine beachtliche Anzahl von Filmen mit Gliedmaßen-Antagonisten (u.a.: The Beast with Five Fingers (1946); The Hand (1981). Selbst Nichtkennern des Genres dürfte zumindest „das eiskalte Händchen“ (im Original: „Thing“) der Addams Family (1991) geläufig sein.

Im Vordergrund eine am Knöchel abgetrennte Hand, die auf den Fingern über eine Art Schrankoberfläche "spaziert". Im Hintergrund ein verstaubter Kommodenaufsatz vor einem Fenster. Düstere Atmosphäre.

Abbildung 1: „Thing“ der Addams Family.

Doch wieso scheinen besonders abgetrennte Hände so interessant für Horrorfilme zu sein?
Keetley (2016) sieht die „impurity“ als das auffälligste Merkmal des Horrorfilm-Monsters an. Eine besondere Form von Unreinheit sei ihrer Meinung nach eine „categorical incompleteness. Das bedeutet, dass dem Antagonisten entweder Körperteile fehlen (z.B.: Candyman (1992)), er aus zusammengesetzten Körperteilen besteht (z.B.: Frankenstein (1931)) oder einfach nur ein Körperteil ist, wie im Fall der abgetrennten Hand.

Für Keetley (2016) symbolisiert die abgetrennte Hand mit Eigenleben vor allem Kontrollverlust, besonders über die Kontrolle des eigenen Körpers. Sie steht demnach für den Verlust der eigenen Autonomie:

„What the whole idea of disobedient, destructive, and even self-destructive hands bring to horror is the crucial move from an “I” to an “It.” Horror suggests that rather than our lives being directed by an “I think”—a singular self in charge of its thoughts and actions—our lives are directed by an “It thinks”: our bodies, outside of the control of our mind, often do just what they want to do.“

Dieser Kontrollverlust führe dann in logischer Konsequenz auch zum Verlust von Menschlichkeit: „[…] the hand […] comes to stand not only for the monster itself […] but also […] for the ways in which our own bodies can take on a life of their own, destroying the ‚human‘“ (Keetley 2016). Ob die Kombination aus Kontroll- und Menschlichkeitsverlust auch ausschlaggebend für die Wahl von abgetrennten Händen als Gefahrenquelle in Helping Hands angesehen werden kann, wird im Folgenden näher erläutert.

HELPING HANDS

Der Kurzfilm Helping Hands wurde vom deutschen Regisseur Christian Mümken im Rahmen des Corona Short Film Festivals 2020 eingereicht und hat eine Gesamtlänge von fünf Minuten. Der Titel schaffte es auf die Shortlist des Festivals, obgleich er keinen Award gewinnen konnte.

Nach einem langen Arbeitstag während der Covid-19-Pandemie kehrt eine junge Krankenschwester zurück in ihre Wohnung. Sie entledigt sich ihrer Arbeitskleidung, wäscht sich ihre Hände und steigt unter die Dusche. Es wird schnell klar, dass sie nicht alleine in ihrer Wohnung ist. Zunächst bewegt sich nur ihre Jacke. Aber schon in der darauffolgenden Szene ist hinter dem Duschvorhang der Schatten einer Hand zu erkennen. Eine richtige Hand – nicht mehr nur ein Schatten – erscheint danach auch am Badewannenrand und im Spiegel, verschwindet aber immer rechtzeitig, bevor die Protagonistin etwas merkt. Während sich die Krankenschwester in aller Ruhe ihr Abendessen vorbereitet und dieses vor dem Fernseher einnimmt, fangen Bilder an zu wackeln, Reißverschlüsse öffnen sich von allein und aus allen Ecken der Wohnung schälen sich immer mehr Hände hervor. Die immer noch ahnungslose Protagonistin legt sich in ihr Bett und liest etwas auf ihrem Smartphone. Die Bedrohung kommt immer näher. Unter ihrem Bett, vor ihrer Tür, hinter ihren Gemälden, aus ihrer Müslischüssel – überall steigen Hände empor. Als sie sich entspannt zur Seite dreht, erhascht sie schließlich einen Blick auf die Hand unter ihrem Kissen. Ihre Panik wird durch das simultan auftretende, heftige Klopfen unzähliger Hände an ihrem Fenster verstärkt. Ein flüsterndes, tiefes „Hey“ befreit sie aus ihrer Starre. Sie dreht sich um und aus der Dunkelheit bewegen sich spinnenartig zwei Hände immer näher auf sie zu und — fangen an zu klatschen. Alle anderen Hände in ihrer Wohnung und vor ihrem Fenster steigen in den Applaus mit ein und der Film endet mit einem ungläubigen, skeptischen Blick der Krankenschwester und der im Dunkel verschwindenden, klatschenden Händen.

Helping Hands setzt vom ersten Moment an auf eine düstere, bedrohliche und unheimliche Atmosphäre. In allen Sequenzen wird mit Licht und Schatten gespielt, es geschieht alles im Halbdunkel einer Wohnung. Nur punktuell erhellen dämmrige Lichtquellen die Szenerie. Es gibt wenige farblich hervorstechende Requisiten, das Bild präsentiert sich fast durchgängig in Grautönen und einem Wechselspiel aus Dunkel und Halbdunkel. Die Einstellungsgrößen der Kamera wechseln – für Horrorfilme typisch – zwischen, Nah-, Groß- und Detailaufnahmen, was zur unheimlichen Atmosphäre beiträgt, da niemals die gesamte Wohnung gezeigt wird. Die kleinen Ausschnitte lassen das Publikum nur erahnen, was sich in den anderen Ecken des Raumes abspielt. Besonders auffällig sind die Groß- und Detailaufnahmen von Möbelstücken und Haushaltsgegenständen, aus denen sich im späteren Verlauf auch die Hände herausschälen. Es werden häufig Kameraeinstellungen aus der Aufsicht oder sogar der Vogelperspektive gewählt. Dies lässt besonders die Protagonistin in einigen Szenen hilflos und klein wirken. Ein Wechselspiel aus objektiver (beobachtender) und subjektiver Kamera (aus Sicht der Protagonistin) erzeugt insbesondere gegen Ende des Films eine hohe Spannung. Abwechselnd wird hier aus Sicht der Protagonistin gefilmt, die die Bedrohung sieht und aus einer beobachtenden Perspektive – meist in Detailaufnahme -, die die Reaktion der Protagonistin einfängt.

Der Kurzfilm ist von Beginn bis Ende musikalisch untermalt. Das unheimliche Sounddesign, das an Horrorfilme aus den 1980er Jahren erinnert, wird besonders akzentuierend entsprechend den gezeigten Bildern eingesetzt und unterstützt dabei in besonderem Maße die spannenden Szenen durch Zunahme an Tempo und/oder Dynamik. Rüsel (2012: 1) spricht in diesem Zusammenhang von „Akzentmusik“. Auch die Geräuschkulisse trägt zur Spannungserzeugung bei. Alltägliche Geräusche wie der laufende Wasserhahn, das Einschütten der Milch oder das Aufziehen des Duschvorhangs, werden hyperrealistisch, also übernatürlich laut, betont und tragen zu einer spannungsgeladenen Atmosphäre bei. Besonders hervorzuheben ist das Geräusch, das in Verbindung mit dem Auftauchen der Hände benutzt wird. Es klingt als würden sich die Hände aus einer Membran herausschälen, was dem Ganzen etwas Surreales verleiht. Dass Musik und Geräuschkulisse so dominant und besonders gestaltet sind, liegt an einer weiteren Besonderheit von Helping Hands: Es wird fast komplett auf Sprache, sowohl aus dem On als auch aus dem Off, und somit auf narratives Erzählen verzichtet. Die Zuschauer:innen sind den Ereignissen unvermittelt ausgesetzt, erleben also alles direkt mit, ohne sich einer erzählenden Instanz bewusst zu sein. Man spricht dabei von unsichtbarem Erzählen (vgl. Kamp & Braun 2011: 8). Einzig die Stimme eines Nachrichtensprechers und einer Krankenschwester, die aus dem Fernseher zu vernehmen sind, fungieren als eine intradiegetische Erzählinstanz, die über den Pflegenotstand während und auch schon vor der Corona-Pandemie berichtet.

Die Story von Helping Hands verläuft chronologisch, dabei umfasst jedoch die erzählte Zeit eine größere Spanne als die Erzählzeit. Unnötiges wird aus dem Film durch Verwendung von Ellipsen getilgt, dabei bleibt eine logische Raum-Zeit-Kontinuität jedoch erhalten. Diese fragmentarische Zeitdarstellung ist ein typisches Stilmittel des Kurzfilms. Die Schnittfrequenz nimmt gegen Ende des Films deutlich zu, wodurch der Spannungsbogen, besonders in Kombination mit dem häufigen Perspektivwechsel der Kamera und dem Tempo und der Dynamik der Filmmusik, seinen Höhepunkt erreicht.

Helping Hands verwendet also sowohl typische Stilmittel des Horrorfilms (besonders bei Bild und Ton) als auch typische Elemente des Kurzfilms (besonders bei der Montage). Ein weiteres spezielles Stilmittel des Kurzfilms ist die erhöhte Verwendungsfrequenz von Symbolen.

Zur Symbolik von (abgetrennten) Händen in Helping Hands

Auch wenn Kontroll- und Menschlichkeitsverlust, die, wie schon erläutert, im klassischen Horrorfilm symbolisch für eine abgetrennte Hand stehen können, als Interpretation auch im Falle von Helping Hands erst einmal passend erscheinen, sollen an dieser Stelle drei Interpretationsansätze vorgestellt werden, die den Symbolcharakter der abgetrennten Hand besonders unter dem Blickwinkel der Covid-19-Pandemie beleuchten. Diese drei Interpretationen bilden einen symbolischen Dreiklang aus Appell, Warnung und Kritik.

Die Einhaltung der AHA-Regeln gehört seit über einem Jahr fest zum pandemischen Alltag dazu. Besonders das lange und gründliche Händewaschen soll zur Eindämmung der Ausbreitung des Corona-Virus beitragen: Denn die Hände sind die häufigsten Überträger von Krankheitserregern(BZgA o.D.). Der Appell an eine gründlichen Handhygiene wird auch in Helping Hands aufgegriffen. Zwar nicht von einer abgetrennten Hand, aber von den Händen der Krankenschwester. In einer knapp zehn-sekündigen Szene sind (nur) ihre Hände beim Händewaschen zu beobachten. Die Dauer dieser Szene ist – besonders für einen fünf-minütigen Kurzfilm – relativ lang. Die Relevanz dieser Tätigkeit wird nicht nur durch seine Dauer unterstrichen, sondern auch durch den hyperrealistischen Ton des laufenden Wasserhahns und des geräuschvollen Einseifens der Hände. Durch die Vogelperspektive und die Dopplung im Spiegel (siehe Abbildung 2), können die Zuschauer:innen gar nicht anders, als den intensiven und gründlichen Waschvorgang genau zu beobachten. Die Szene erinnert beinahe an ein Instruktionsvideo zur adäquaten Handhygiene. Dieser Eindruck wird durch die gewissenhaften und empfohlenen Reinigungsbewegungen der Krankenschwester, wie dem Einseifen des Handrückens oder der Fingerzwischenräume, zusätzlich verstärkt.

Ein Waschbecken aus der Vogelperspektive. Es ist ein Paar Hände zu sehen, das gerade Seife zwischen den Fingern verteilt. Der Spiegel über dem Waschbecken zeigt das Motiv noch einmal spiegelverkehrt, sodass die sich waschenden Hände zweimal zu sehen sind.

Abbildung 2: Krankenschwester beim Händewaschen (Mümken, 2020)

Eine schwarze Tasche mit Trinkflasche in der Seitentasche, die auf einem Sessel liegt. Im Hintergrund zwei Bilder an der Wand und eine Lampe.

Abbildung 3: Unsichtbare Gefahr (Mümken, 2020)

 

 

 

 

 

Neben einer appellierenden Funktion können die abgetrennten Hände auch als Warnung vor unterschätzten und/oder verharmlosten Gefahren angesehen werden. Als Anhaltspunkt für diese Interpretation dienen gleich mehrere Szenen. Zu Beginn des Kurzfilms ist eine lauernde Gefahr erahn-, aber noch nicht wirklich greifbar. Die sich bewegende Tasche (siehe Abbildung 3) lässt zwar vermuten, dass etwas nicht stimmt, eine Gefahr lauert, aber was genau das Gefährliche nun ist, bleibt vorläufig im Vagen. Im Verlauf der Badezimmer-Szene nimmt diese Gefahr jedoch Gestalt an: In gleich drei Einstellungen ist jeweils eine Hand zu sehen. Zunächst nur als Schatten (siehe Abbildung 4), aber schon kurz darauf sichtbar am Badewannenrand und im Spiegel.

Frau unter der Dusche, die ihr Gesicht gerade leicht nach oben, dem Duschstrahl entgegen richtet. Links am Duschvorhang ist der Schatten einer Hand zu sehen.

Abbildung 4: Schatten der Hand in Duschszene (Mümken, 2020)

Die Kamera ist vom Bett aus nach unten auf den Parkettboden gerichtet. Drei Hände bewegen sich gerade unter dem Bett hervor und tasten teils am Bettkasten.

Abbildung 5: Drei Hände unter dem Bett (Mümken, 2020)

 

 

 

 

 

Das Geschehen nimmt von da an rasch Fahrt auf. Aus immer mehr Ecken und Winkeln der Wohnungen treten Hände hervor. Das Auftauchen von nicht mehr nur einer, sondern gleich drei Händen, die sich unter dem Bett hervorschälen, visualisiert die rasch wachsende Gefahr (siehe Abbildung 5) und erreicht schließlich ihren Höhepunkt mit insgesamt acht Händen, die gegen das Fenster der Protagonistin klopfen (siehe Abbildung 6). Die Krankenschwester wird sich der Gefahr zu spät bewusst, sie ist letztlich umzingelt von unzähligen Händen. Hier sind deutliche Parallelen zum Verlauf der Pandemie respektive zur Gefahrenwahrnehmung der Menschen und auch der Politik (vor allem in Deutschland bzw. der westlichen Welt) zu erkennen. Zunächst wurde das Virus als nicht sonderlich bedrohlich eingestuft. Etwas aus einem fernen Land, etwas, das mit dem persönlichen Alltag nichts zu tun hat und diesen somit auch nicht beeinflusste. Nach und nach wurden aber auch hierzulande immer mehr Fälle bekannt. Erst nur vereinzelt, aber schnell verzeichnete die Ausbreitung des Virus ein exponentielles Wachstum und klopfte – sinnbildlich gesprochen – bei jedem Einzelnen gegen das heimische Fenster.

Ein Fenster, das von hellen Vorhängen gerahmt wurde. Draußen ist es Nacht und viele Hände pressen sich von außen gegen die Scheibe.

Abbildung 6: Acht Hände vor dem Fenster (Mümken, 2020)

Eine Frau mit langen blonden Haaren und verwirrtem Gesichtsausdruck schaut frontal in die Kamera. Im Vordergrund, rechts und links am Rand des Bildes sind applaudierende Hände zu sehen. Die Frau sitzt auf ihrem Bett, im Hintergrund ist das erleuchtete Display ihres Smartphones zu sehen, welches auf der Matratze liegt.

Abbildung 7: Krankenschwester umgeben von klatschenden Händen (Mümken, 2020)

 

 

 

 

 

Eine weitere Besonderheit von Helping Hands ist, dass fast komplett auf Sprache verzichtet wird. Mit genau einer Ausnahme: Die Krankenschwester lässt während der Wohnzimmer-Szene den Fernseher laufen und aus dem Off ist ein Nachrichtensprecher zu hören, der die Zustände in der Pflege anprangert. Auch eine von ihm interviewte Krankenschwester, die vor allem die lobenden Worte der Politik als Hohn empfindet, ist deutlich zu vernehmen. Diese auditive Besonderheit des zunächst vollkommenen Verzichts auf Sprache unterstreicht die Relevanz der im Fernseher zu hörenden Worte und lenkt die Aufmerksamkeit der Rezipient:innen auf die prekären Verhältnisse des Pflegepersonals. Daneben kann besonders die filmische Auflösung des Spannungshöhepunkts – das Einsetzen des Applauses – als Kritik am Umgang mit dem Pflegepersonal angesehen werden. Besonders wird dies an der Großaufnahme der Krankenschwester deutlich, in der sie ungläubig auf die drei sie umgebenden, klatschenden Hände blickt (siehe Abbildung 7). Der Missmut des Pflegepersonals, der sich in den sozialen Netzwerken, auf den Straßen oder in Interviews zeigte, wird in dieser einzigen Einstellung deutlich sichtbar. Das Ende des Films visualisiert damit eindrücklich die Horrorvorstellung der Pflegekräfte: ihre nicht ganz unbegründete Angst, dass sich an ihren schlechten Arbeitsverhältnissen und ihrem unzureichenden Gehalt nichts ändern wird und dass der Applaus ihre einzige „Bezahlung“ bleiben wird.

Fazit

Der klassische Horrorfilm nutzt verschiedene Techniken, um beim Publikum Angst und Schrecken zu erzeugen. Neben typischen Stilelementen wie Bild- und Ton-Arrangements macht aber besonders die inhaltliche Auseinandersetzung mit aktuellen Ängsten der Menschheit und deren filmische Ausgestaltung einen guten Horrorfilm aus (vgl. Vossen 2004: 28). Christian Mümken bringt mit seinem Horror-Kurzfilm Helping Hands beides zusammen: Die aktuellen Ängste der Menschen bezüglich des Corona-Virus werden durch die Verwendung von klassischen Horrorfilm-Elementen unterstrichen. Neben für Horrorfilme charakteristischen Kameraeinstellungen, düsterer Kulissengestaltung und einem spannungsgeladenen Soundtrack, hat er sich für seinen Horrorfilm auch einen typischen Antagonisten ausgesucht: die abgetrennte Hand. Während die abgetrennte Hand im klassischen Horrorfilm für Kontroll- bzw. Menschlichkeitsverlust steht, nimmt sie in Helping Hands andere Funktionen ein: Warnung, Appell und Kritik.

Erstens kann die wachsende Anzahl der abgetrennten Hände im Verlauf des Films, die ihren Höhepunkt in der Umzinglung der Protagonistin darstellt, als Warnung vor unterschätzten oder gar verharmlosten Gefahren angesehen werden. Die anfänglich zahlenmäßig noch überschaubaren Covid-19-Fälle wiegten auch hierzulande sowohl die Bevölkerung als auch die Politik in Sicherheit, die Situation erschien kontrollierbar. Die Gefahr wurde unterschätzt und die Infektionszahlen schnellten in die Höhe. Das exponentielle Wachstum der Virusausbreitung wird im Film durch die wachsende Anzahl an Händen dargestellt. Letztlich, und das wird an den Zahlen überaus deutlich, sind wir nun auch in einer Situation, in der wir von der Gefahr umzingelt sind.

Zweitens sind Hände die häufigsten Überträger von Viren und Bakterien. Sie stehen daher sinnbildlich für eine mögliche Ansteckung bzw. Übertragung und gelten momentan per se als potentiell gefährlich. Diese mögliche Ansteckungsgefahr durch kontaminierte Hände nutzt der Film auch in einer appellierenden Funktion: Das Händewaschen wird in einer langen und gedoppelten Einstellung präsentiert, was die momentane Relevanz dieser Tätigkeit noch einmal deutlich unterstreicht.

Drittens und letztens können die applaudieren Hände als Kritik am Umgang mit dem Pflegepersonal angesehen werden. Die Reaktion der Protagonistin auf die klatschenden Hände verdeutlicht sehr genau die Befürchtungen des Pflegepersonals auf das allabendliche Applaudieren, nämlich, dass der Applaus ihre einzige Bezahlung bleibt.

„Wir Pflegekräfte brauchen keine Klatscherei. Wir wollen auch keine Merci-Schokolade und warme Worte! Wir brauchen 4000 Euro brutto, mehr Personal, Gefahrenzulagen und ein entprivatisiertes Gesundheitssystem!“ (Amanoman, 2020)

Mümken hat sich das Horror-Genre und im Besonderen den Kultstatus der abgetrennten Hand innerhalb des Genres zunutze gemacht, um dem klassischen Bösewicht unter den momentanen Gegebenheiten noch einmal eine ganz neue Bedeutung zu verleihen. Dies gelingt ihm meiner Meinung nach besonders, da die Grenzen des realen und des filmischen Horrors in diesem speziellen Fall so sehr verschwimmen.

 

Literatur

Amanoman [Amanoman1]. (2020, 19.03.). Reaktion auf Applaus. [Tweet]. Twitter.  https://twitter.com/amanoman1/status/1240573094101647360?lang=de

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (o.D.): Händewaschen. Infektionsschutz. https://www.infektionsschutz.de/haendewaschen.html [Zugriff am 27.02.2021].

Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) (o.D.): Horror, der. DWDS. https://www.dwds.de/wb/Horror#etymwb-1 [Zugriff am: 22.02.2021].

film-lexikon.de (o.D.): Horrorfilm. Film-Lexikon. https://www.film-lexikon.de/Horrorfilm [Zugriff am: 23.02.2021].

Heinrich, Katrin (1998): Der Kurzfilm: Geschichte, Gattung, Narrativik. 2. Aufl. Alfeld/ Leine: Coppi-Verlag.

Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) (2008, 26.02.): Narration und Dramaturgie. HAWK. http://wikis.hawk-hhg.de/wikis/fields/Filmanalyse/field.- php/FilmanalyseNachMikos/2-NarrationUndDramaturgie [Zugriff am 23.02.2021].

Kamp, Werner & Braun, Michael (2011): Filmperspektiven. Filmanalyse für Schule und Studium. Haan-Gruiten: Europa-Lehrmittel.

Keetley, Dawn (2016, 23.09.): It’s Alive! Why so many Hands in Horror? Horror Homeroom. http://www.horrorhomeroom.com/hands-in-horror/#_edn1 [Zugriff am 26.02.2021]

Teuscher, Gerhard (2006): Filmanalyse. In: Praxis Geschichte 19 (5). S. I-IV.

Wulff, H.J. & Vonderau, P. (2012, 20.12.): Lexikon der Filmbegriffe. Horrorfilm. Filmlexikon Uni Kiel. https://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=207 [Zugriff am 23.02.2021].

Vossen, Ursula (2004): Filmgenres. Horrorfilm. Stuttgart: Reclam.

Wagenknecht, Andreas (2020): In der Kürze liegt die Würze. Zur Bedeutung und Aktualität des kurzen Films. In: Pfeiffer, Joachim (Hrsg.): Der Deutschunterricht 72 (3). S.2-9.

Filme

Golin, S., Sighvatsson, S., Poul, A. (Produzenten) & Rose, B. (Regisseur) (1992). Candyman. US: TriStar Pictures.

Jacobs, W. (Produzent) & Florey, R. (Regisseur) (1946). The Beast With Five Fingers. USA: Warner Bros.

Laemmle, Jr., C. (Produzent) & Whale, J. (Regisseur) (1931). Frankenstein. USA: Universal Pictures.

Mümken, Christian (Produzent & Regisseur) (2020). Helping Hands. Deutschland. Online: https://vimeo.com/419720670 [Zugriff am: 22.02.2021]

Pressman, E.R. (Produzent) & Stone, O. (Regisseur) (1981). The Hand. USA: Orion Pictures & Warner Bros.

Rudin, S. (Produzent) & Sonnenfeld, B. (Regisseur) (1991). The Addams Family. USA: Paramount Pictures.

Abbildungen

Abbildung 1: Addamsfamily Fandom (1991): „Thing“ der Addams Family. Gesehen unter:
https://addamsfamily.fandom.com/wiki/Thing?file=1991_02.jpg [Letzter Aufruf: 21.06.21]

Abbildung 2, 3, 4, 5, 6 und 7: Mümken, Christian (Produzent & Regisseur) (2020). Helping Hands. Deutschland. Screenshots aus Video: https://vimeo.com/419720670 [Zugriff am: 22.02.2021]